Alle Jahre wieder.

Ich mag den Advent. Das behaupte ich jedes Jahr und glaube mir. Die Gerüche, die Geschmäcker, die Gemütlichkeit. Kirchenglocken läuten ihre Versprechen in die Dunkelheit. Die Hoffnung auf den ersten Schnee, auf dass er die Wunden der Stadt mit Licht verhüllen möge. Ende November habe ich eine Liste im Kopf: Yogastunden, Plätzchenrezepte, freundschaftliche Einkaufsbummel, karitativer Weihnachtsmarkt und Strick und katerfreier Glühweingenuss, das will ich alles. Dezember ist ein Lichtermeer, steht in einem Kinderbuch meiner Tochter, und ich nicke begeistert und sage, ja genau. Dann wird alles ganz anders. Komisch, dass mich das alle Jahre wieder überrascht.

Vor zehn Jahren bin ich im Dezember verrückt geworden. Natürlich lässt sich das nicht als Singularität verkaufen, aber es klingt besser. Und fühlt sich für mich nach der Wahrheit an, auch wenn ich schon mein Leben lang ein bisschen schräg bin. Der Dezember 2007 war kein Lichtermeer, der war ein feuchter Keller, eine Wendeltreppe im leeren Raum, ein Death Metal Konzert um vier Uhr morgens. Tägliche, siebzigminütige Märsche durch Kälte und Matsch zu meiner Arbeit (und wieder zurück), um Bahn oder Bus zu umgehen. ÖPNV gleich Superhorror. Im Büro total zugedröhnt am Schreibtisch sitzen und das klingelnde Telefon anstarren. In Meetings den rotierenden Mündern wortlos zunicken und alles sofort wieder vergessen. Ich weiß heute echt nicht mehr, wie es mir gelang, den Eindruck von Normalität aufrecht zu erhalten. Vielleicht gelang es mir auch überhaupt nicht, und ich habe seit zehn Jahren den Ruf einer genialen Exzentrikerin, ohne es zu wissen.

Der Dezember ist seitdem meine Sollbruchstelle. Jedes Jahr trete ich mit Zuversicht und Schwung durch seine Pforten, so wie man bei Sonnenschein aus der Haustür tritt, um draußen festzustellen, dass man die zu dünne Jacke anhat und keine Wollsocken und und der Schlüssel leider von innen steckt. Jetzt aber, denke ich mir immer auf’s Neue, und scheitere an meinen eigenen Ansprüchen und den der anderen. Es wäre fast lustig, wenn es nicht so scheiße wäre.

Weil ich generell optimierungsfreudig bin, überlege ich mir mittlerweile allerlei Selbstfürsorgemaßnahmen für diese Jahreszeit: Weniger arbeiten, mehr liebe Menschen treffen, ganz sanft zu mir selbst sein, regelmäßige Bewegung, keine sozialen Zwänge. Spoiler: Klappt mittel, klappt kaum, klappt gar nicht, klappt prima, klappt nie. Irgendwas ist dann doch immer, irgendeine Arschbombe platzt in die gut geplante Achtsamkeit, und dann soll/will/muss ich um der Gemeinschaft willen funktionieren und ein Mensch sein, den man lieb haben kann, ohne sich das Herz oder den Verstand zu verrenken.

Im Ergebnis bin ich zu Weihnachten leergepumpt, nur mehr Bodensatz und traurige Reste. Mein Social Media Feed zeigt perfekte Adventskalender und Tannenbäume im Skandi-Chic, lachende Kinder in Kaschmir und Liebesschwüre. Zu viele Emojis, ironische Pullover. Ich liege schlaflos und betrachte mein Smartphone wie ein erleuchtetes Fenster. Irgendwo in meinem Kopf ist es immer Dezember 2007.

Auf meinem späten Heimweg sehe ich viele Schwäne, fünfzig sind es sicher, die sich auf dem dunklen Landwehrkanal versammeln. Als ich die Brücke überquere, drehen sie sich gleichzeitig in meine Richtung, einem lautloses Kommando folgend, kleine Geister auf dem schwarzen Fluss. Ich halte inne, fünfzig Schwäne schauen zu mir hoch. Mir ist so festlich zumute. Ach, Advent. Eigentlich mag ich Dich ja.

9 Gedanken zu “Alle Jahre wieder.

  1. Ich lese diesen Text und habe Angst.. Angst vor der Weihnachtspause, dem Zurruhekommen und den Erwartungen des Mannes und der Kinder an diese Zeit.
    Kein gutes Gefühl, aber eines was mir durch diesen Text zumindest greifbarer geworden ist.
    Danke für diesen Blog und dein Draufverweisen letzte Woche auf Insta

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    • Ich denke, diese Sollbruchstellen benötigen einen Lernprozess. Es kann besser werden. Meine persönlichen Baustellen sind zum Beispiel: Nein sagen. Pausen einfordern und dann auch machen. Die Dinge manchmal einfach chaotisch sein lassen – ohne sie sofort reparieren zu wollen. Crashes zulassen. Der Text sagt das nicht konkret, aber all diese Dinge machen für mich einen großen Unterschied.

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  2. eben diese seite hier entdeckt und hin und weg!
    hier herrscht das grauen vor den kommenden tagen – so viele knirschende sollbruchstellen, so viele möglichkeiten zu fallen…

    danke dir für alle deine worte!

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    • Ich weiß. Es ist immer wieder schwierig. Selfcare ist unbedingt nötig in dieser Zeit, noch viel nötiger als sonst. Immer, wenn ich mich nicht um mich kümmere, fällt mir das auf die Füße. Ich schätz mal, das gilt für jede*n weihnachtssensiblen Menschen.

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  3. Hier auch! Ganz viel Liebe für diesen Text. Ich lese dich unglaublich gerne. So viel Traurigkeit, Wahrheit, Klarheit und Wirrwarr. Die Gedanken sind mir so bekannt und ich stelle erleichtert fest, dass ich nicht der einzige Alien hier unter den ganzen Menschen bin. Das ist befreiend, irgendwie. Auch wenn du in vielerlei Hinsicht lieber Mensch wärst und weniger Alien, hier in diesem komischen Ding namens Leben…
    Danke, dass du so oft meinen Gordischen Gedankenknoten löst!

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  4. Pingback: Can’t stand losing. | schattentiere

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